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160 Jahre danach - Gettysburg Leadership Lessons, Teil 1: George Gordon Meade

In der Krise zum Chef befördert - ein Höllenjob

Von Mark Hübner-Weinhold

Nehmen wir einmal an, Sie sind ein Hauptabteilungsleiter in einem Unternehmen mit 95.000 Beschäftigten. Ihr Bereich zählt rund 15.000 Köpfe – und Sie sind mit Ihrem Führungsstab echt gefordert, das komplexe Alltagsgeschäft dieses riesigen Apparats reibungslos zu organisieren. Ihre Firma kämpft erbittert um die Marktführerschaft gegen nur einen einzigen Wettbewerber und ist in den letzten zwei Jahren rasant gewachsen. Und das, obwohl in nur 20 Monaten drei Vorstandsvorsitzende vom Aufsichtsrat gefeuert wurden. Ihr Konkurrent hat zwar weniger Stammkapital und Ressourcen, wird aber von einem der anerkannt brillantesten Köpfe der Branche geführt und nimmt Ihrer Firma konsequent Marktanteile weg. Jetzt holt der Wettbewerber zu einem entscheidenden Vorstoß aus, um Marktführer zu werden. Da erhalten Sie die Nachricht, dass auch ihr aktueller CEO nach nur sechs Monaten das Handtuch geworfen hat. Obwohl es in dieser Krise erfahrenere und Ihrer Meinung nach besser geeignete Kandidaten unter den Führungskräften gibt, bittet der Aufsichtsrat völlig überraschend Sie, den Job als CEO zu übernehmen. Sie haben nur wenige Tage Zeit, das Ruder herumzureißen, denn der Wettbewerber attackiert Ihr Unternehmen in den Marktsegmenten, die Sie bisher beherrscht haben.

 

Klingt nach einer ziemlich brutalen Herausforderung für eine Führungskraft, oder? Ja, es ist extrem, zumindest im Business-Kontext. Aber dieses Szenario beschreibt exakt die Lage von Generalmajor George Gordon Meade am 28. Juni 1863. Der damals 47-jährige Ingenieur war nur ein halbes Jahr zuvor zum Befehlshaber des V. Korps der sogenannten Army of the Potomac befördert worden. So hieß die Unionsarmee rund um die Hauptstadt Washington, D.C., die seit Beginn des Bürgerkrieges eine Reihe von demütigenden Niederlagen durch die konföderierte Army of Northern Virginia einstecken musste. Kein Wunder also, dass der Oberbefehlshaber der Unionsarmee (sozusagen der Aufsichtsratsvorsitzende), Präsident Abraham Lincoln, einen Kommandeur nach dem anderen wegen Unfähigkeit ausgetauscht hatte. Jetzt, nachdem der vierte in dieser Galerie der Versager, General Joe Hooker, trotz doppelter Truppenstärke im Mai bei Chancellorsville die nächste verheerende Schlappe gegen die Südstaatler kassiert hatte, war Generalmajor Meade der Auserwählte.

 

Ein Mann, der Verantwortung übernimmt - gegen einen unbesiegbaren Gegner

Als der Bote aus Washington ihn nachts aus dem Schlaf riss, um das Ernennungsschreiben zu überreichen, glaubte Meade zuerst, er solle sich wegen irgendeines Vergehens vor dem Kriegsgericht verantworten. Ungläubig starrte er auf die Zeilen. Es gab doch bessere Kandidaten! Generalmajor John Reynolds etwa, der Kommandeur des I. Korps, wohl der damals beste General in der Unionsarmee. Aber Reynolds hatte die Beförderung abgelehnt. Meade erholte sich schnell von seinem Schock und akzeptierte das neue Amt. Er war ausgesprochen loyal, pflichtbewusst und hatte keine politischen Ambitionen wie so viele andere Generäle.

 

Meade übernahm Verantwortung für die Army of the Potomac – und damit für die Union. Denn der Feind war einmarschiert ins Territorium der Nordstaaten und zog in etlichen, mehrere Dutzend Kilometer langen Kolonnen mit 65.000 Mann im Schatten der Blue Ridge und South Mountains nach Norden. Die Konföderierten bedrohten Harrisburg, die Hauptstadt Pennsylvanias, und konnten so Washington und die wichtige Hafenstadt Baltimore einkesseln. Meades Pflichtbewusstsein ist umso höher einzuschätzen, wenn man sich den gegnerischen Kommandeur vergegenwärtigt: General Robert E. Lee, längst ein Mythos, Schreckgespenst der Unionsbefehlshaber und ein genialer Stratege.

 

Meade war "the normal one", kein Superstar wie Robert E. Lee

Doch genau deshalb können wir im heutigen Business von George Gordon Meade viel lernen. Er war „the normal one“, wie Liverpools Trainer Jürgen Klopp sich einmal selbst bezeichnete, kein verehrter Star wie Robert E. Lee oder Napoleon Bonaparte und Julius Caesar zu ihren Glanzzeiten. Meade hatte nicht das weise Charisma und die unantastbare Präsenz des großen Feldherrn Lee, aber er war ebenfalls ein gut ausgebildeter Absolvent der Militärakademie von West Point, Ingenieur, kampferfahren, solide und zuverlässig. Er analysierte die vorliegenden Informationen, holte den Rat seiner wichtigsten Offiziere ein und wägte seine Entscheidungen sorgsam ab – und traf sie dann entschlossen.

 

Und doch empfand er großen Respekt vor seiner Führungsaufgabe: In einem Brief an seine Frau Margaretta schrieb Meade, das Kommando über die Army of the Potomac sei "eher geeignet, den eigenen Ruf zu zerstören, als ihn zu verbessern." In der Tat war der Generalmajor um diesen Job nicht zu beneiden. Er übernahm eine demoralisierte Armee, die ein ums andere Mal von den Rebellen geschlagen worden war und Robert Lee wirklich fürchtete. Und er sollte das feindliche Heer, dessen genaue Position sich kaum zuverlässig ermitteln ließ, stellen und aufhalten. Zugleich wurde von ambitionierten Offizieren in seiner Armee und Politikern in Washington eifersüchtig beobachtet, ob Meade denn diesem Kommando überhaupt gewachsen sei.

 

Innerhalb weniger Stunden setzte er seine sieben Korps mit rund 95.000 Soldaten in Bewegung Richtung Norden. Mit Kavallerieregimentern, Artillerie-, Ambulanz- und Nachschubwagen umfasste nur ein Korps bereits mehrere Kilometer Marschkolonne. Vom VI. Korps mit 15.697 Soldaten unter dem Kommando von Generalmajor John Sedgwick ist überliefert, dass sich der Tross über 10 Meilen erstreckte. Mit seinem Stab orchestrierte Meade nun die Bewegungen dieser riesigen Armee. Um mehr Geschwindigkeit aufzunehmen, wurden die Korps in kleinere Einheiten aufgeteilt, die gleichzeitig auf möglichst parallelen Wegen über die staubigen Straßen von Maryland und Pennsylvania viele Meilen nach Norden marschierten. Dieses Vorgehen funktioniert nur, wenn die Marschbefehle lückenlos und schnell zu allen sieben Korpskommandeuren transportiert werden und ein stetiger Fluss von Informationen zwischen den Führungsstäben möglich ist – damals mit Meldereitern.

 

Einfache Befehle, klare Kommunikation, schnelle Umsetzung

Meade teilte seinen Korpskommandeuren mit, dass er schnelle Entscheidungen treffen und ihnen die Befugnis erteilen würde, diese Befehle so auszuführen, wie sie es für richtig hielten. Damit praktizierte er bereits die moderne Auftragstaktik: Der Weg zum Ziel wird der Verantwortung der Führungskräfte vor Ort überlassen, die am besten beurteilen können, welches Vorgehen situativ angemessen ist.

Sein Befehl an die Kommandeure war einfach und verständlich:

1.      Findet den Feind.

2.      Greift den Feind an.

3.      Haltet den Feind an Ort und Stelle.

 Damit hatte Meade ein klares Ziel und die sofortige Umsetzung formuliert. Für die Kommandeure war unzweideutig: Wer auf die Konföderierten trifft, attackiert und hält die Stellung, bis Verstärkung eintrifft. Wie gut das funktioniert hat, lesen Sie in meinem nächsten Beitrag am 30. Juni.

 

Meade machte auch deutlich, dass er sich darauf verließ, dass die Korpskommandeure ihn in strategischen Fragen gut beraten würden. Er nahm seine wichtigsten Führungskräfte so in eine aktive gemeinsame Verantwortung. Während der späteren Schlacht von Gettysburg vom 1. bis 3. Juli 1863 setzte sich der Befehlshaber manchmal drei- oder viermal am Tag mit seinem Kriegsrat zusammen. Berühmt ist sein Meeting in der Nacht des 2. Juni, als Meade seine Korpskommandeure abstimmen ließ, ob sie den Kampf in Gettysburg fortsetzen oder sich die Army of the Potomac vom Schlachtfeld zurückziehen solle. Einstimmig votierten die Generäle für die Fortsetzung der Schlacht. Meade legitimierte seine Entscheidung damit sogar demokratisch.

 

Was haben Sie verstanden? Und was beabsichtigen Sie zu tun?

Meade setzte dabei ein einfaches, aber enorm wirksames Konzept ein: Jeder in der Befehlskette muss die Ziele der Mission zwei Ebenen über ihm klar und deutlich kennen und selbst in der Lage sein, diese Informationen zwei Ebenen unter ihm zu vermitteln. Auf diese Weise ist jeder in der Armee in der Lage, unter Stress "im Augenblick" Entscheidungen zu treffen, die mit dem vom Befehlshaber festgelegten strategischen Gesamtziel in Einklang stehen. Die ständige "Bestätigung des Verständnisses" ermöglichte es Meade, seinen Kommandeuren und Soldaten die Taktiken und Strategien zu vermitteln, die erforderlich waren, um die massiven Angriffe der Konföderierten zu überstehen. Ein wichtiger Bestandteil dieses Konzepts ist die "Rückmeldung" oder "Bestätigung des Verständnisses". Jeder im Team muss in seinen eigenen Worten ein genaues Verständnis der Absicht der Führungskraft artikulieren, so dass Sie als Führungskraft sicher sein können, dass die Mitarbeiter es verstehen und die richtigen Entscheidungen treffen werden. Die dafür entscheidenden Alltagsfragen für Führungskräfte in modernen Organisationen lauten also: Was haben Sie verstanden? Und was beabsichtigen Sie zu tun?

 

Ein weiterer Punkt, der an Meades Führungsverhalten zu würdigen ist: Er blieb als neuer Befehlshaber nicht im Hauptquartier, sondern bewegte sich ständig auf dem Schlachtfeld, erteilte Befehle und sorgte dafür, dass sie befolgt wurden. Das war „Management by Walking Around“ in einer extremen Drucksituation. Meade erwies sich erneut als moderne und sehr wirksame Führungskraft.

 

Umso erstaunlicher, dass die Geschichtsschreibung ihn nur selten zu den großen Befehlshabern des amerikanischen Bürgerkriegs zählt. Sein Ruf hat vor allem darunter gelitten, dass er nach drei Tagen Gemetzel auf dem Schlachtfeld von Gettysburg seine erschöpfte Armee hat ausruhen lassen anstatt im strömenden Regen der geschlagenen Südstaaten-Armee nachzusetzen. So konnte Robert E. Lee sich nach Virginia zurückziehen und frische Kräfte schöpfen – ein Umstand, den Präsident Lincoln Meade übelnahm. Doch dieses Urteil ist ungerecht. Was George Gordon Meade als Führungskraft in neuer Funktion unter extremem Druck, in einer hochkomplexen und volatilen Lage mit höchst unsicheren Informationen erreicht hat, ist eine historische Meisterleistung. Die Geschichte der USA wäre ohne ihn vielleicht ganz anders verlaufen.

 

Lesen Sie im zweiten Teil der Serie am 30. Juni: John Buford - der Mann, der das beste Gelände in Gettysburg sicherte

 

Foto: Portrait of Maj. Gen. George G. Meade. Brady National Photographic Art Gallery (Washington, D.C.)

 

 

Wie eine gigantische Verfolgungsjagd: Der Marsch der beiden riesigen Armeen von Virginia durch West Virginia bzw. Maryland nach Pennsylvania. Bis zum zufälligen Aufeinandertreffen der Armeen in Gettysburg gab es fast ausschließlich Gefechte zwischen oder mit Einheiten der Kavallerie unter Stuart (Konföderation) und Pleasonton (Union) sowie ein Scharmützel an der Brücke von Wrightsville, die von den Bewohnern niedergebrannt wurde, um den weiteren Vormarsch von Lees Truppen über den Susquehanna River zu stoppen.


Übersicht über die Korps der beiden Armeen und die Protagonisten der Schlacht von Gettysburg (in der Serie)

Army of the Potomac (Union)

Befehlshaber: Generalmajor George Gordon Meade

Artilleriekommandeur: Brigadegeneral Henry J. Hunt

Kommandeur des Ingenieurskorps (Pioniere): Brigadegeneral Kemble Warren

 

I. Korps: Generalmajor John Fulton Reynolds

 

II. Korps: Generalmajor Winfield Scott Hancock 

 

III. Korps: Generalmajor Daniel Sickles

 

V. Korps: Generalmajor George Sykes

1. Division: Brigadegeneral James Barnes

3. Brigade: Oberst Strong Vincent

20. Maine Regiment: Oberst Joshua Lawrence Chamberlain

 

VI. Korps: Generalmajor John Sedgwick

 

XI. Korps: Generalmajor Oliver Otis Howard

 

XII. Korps: Generalmajor Henry Warner Slocum

 

Kavalleriekorps: Generalmajor Alfred Pleasonton

1. Division: Brigadegeneral John Buford

1. Brigade: Oberst William Gamble

2. Brigade: Oberst Thomas Devin

 

 

Army of Northern Virginia (Konföderation)

Befehlshaber: General Robert Edward Lee

Adjutant: Major Walter H. Taylor

 

I. Korps: Generalleutnant James Longstreet

McLaws Division: Generalmajor Lafayette McLaws

Picketts Division: Generalmajor George E. Pickett

Armisteads Brigade: Brigadegeneral Lewis A. Armistead (eine von drei Brigaden)

Hoods Division: Generalmajor John Bell Hood

 

II. Korps: Generalleutnant Richard Stodderd Ewell

Earlys Division: Generalmajor Jubal Early

Johnsons Division: Generalmajor Edward Johnson

Rodes' Division: Generalmajor Robert E. Rodes

 

III. Korps: Generalleutnant Ambrose Powell Hill

Andersons Division: Generalmajor Richard H. Anderson

Heths Division: Generalmajor Henry Heth (Stv. Brigadegeneral James J. Pettigrew)

Penders Division: Generalmajor William D. Pender (nach Verwundung ersetzt durch den vom II. Korps versetzten Generalmajor Isaac R. Trimble)

 

Kavalleriekorps: Generalmajor John Ewell Brown (J.E.B.) Stuart

 

Britischer Militärbeobachter: Oberstleutnant Arthur Lyon Fremantle, Coldstream Guards