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160 Jahre danach - Gettysburg Leadership Lessons, Teil 5: James Longstreet

Ein Desaster, weil der Chef den Rat seines innovativen Stellvertreters ignoriert

Von Mark Hübner-Weinhold

General Robert E. Lee stand am dritten Morgen der Schlacht wie üblich noch vor Sonnenaufgang auf. Er war unzufrieden mit seinen leitenden Offizieren, weil er glaubte, dass seine Befehle und Pläne bislang mangelhaft und oft verzögert ausgeführt worden waren. Am 1. Juli hatten Brigaden von Generalmajor Harry Heth gegen die ausdrückliche Anordnung von Lee ein massives Gefecht mit dem I. Unionskorps im Westen der Kleinstadt begonnen. Am Abend hatte Generalleutnant Richard S. Ewell es versäumt, Kapital aus dem siegreichen Vormarsch seines II. Korps zu schlagen und so die strategisch wichtigen Erhebungen Culp's Hill und Cemetery Hill der Union überlassen. Am 2. Juli standen die Konföderierten mehrmals kurz vor dem Durchbruch auf der linken Flanke von Meades Armee, doch war Fortuna an diesem Tag den Blauröcken hold. Lee war sich sicher, dass die Angriffe, wären sie schneller erfolgt und besser mit den Attacken von Ewell und A.P. Hill im Norden der Front koordiniert, erfolgreich gewesen wären. Hinzu kam, dass der konföderierte Befehlshaber am späten gestrigen Abend noch seinen sonst so zuverlässigen Kavalleriechef J.E.B. Stuart abmahnen musste, weil dieser zwölf Tage lang keinen Kontakt zu ihm gehalten hatte - und Lee somit blind war, was die Truppenbewegungen und -stärke des Feindes betraf.

 

Und dann war doch James Longstreet, nach dem Tode von Thomas "Stonewall" Jackson sein bester und erfahrenster Korpskommandeur, "mein altes Schlachtross" ("my old warhorse"), wie Lee ihn wertschätzend nannte. Doch der 42jährige Generalleutnant aus South Carolina, Spitzname "Old Pete", stellte seit seiner Ankunft auf dem Schlachtfeld am Nachmittag des 1. Juli ständig Lees Schlachtplan infrage. Longstreet, ein brillanter Defensivtaktiker, hatte rasch die vorteilhafte Position der Unionstruppen auf den Hügelkämmen erkannt und empfahl deshalb bereits am ersten Tag eine strategische Umgehung der linken Flanke der Potomac-Armee, um die Schlacht auf einem für die Rebellenarmee besser geeigneten Gelände zu schlagen.

 

Ein kontroverser Dialog zwischen Chef und Stellvertreter

Im historisch ziemlich akkuraten Film "Gettysburg" (1993), basierend auf dem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Buch "The Killer Angels" von Michael Shaara, spielt sich am 1. Juli folgender Dialog zwischen Longstreet und seinem Chef ab:

"Wir müssen nur noch nach Süden schwenken und dann die Straße nach Osten marschieren und uns zwischen sie und Lincoln setzen", sagte Longstreet mit Blick auf die Defensivstellungen der Unionsarmee.

Lee war irritiert: "Sie denken, dass wir uns hier zurückziehen?"

Longstreet bejahte: "Sir, ich hatte immer den Eindruck, Sie würden einer defensiven Strategie das Wort reden. Das heißt, Sie nutzen jede Möglichkeit, um die Armee zu schonen und ihre Schlagkraft zu erhalten."

Doch Lee beharrte darauf, dass der Feind sich bereits aus Gettysburg zurückzöge und seine Soldaten hochmotiviert wären, hier und jetzt zu kämpfen. 

Longstreet gab nicht nach: "Morgen sind wir vielleicht zahlenmäßig unterlegen, und die Yankees haben sich auf den Hügeln verschanzt."

Lee erinnerte seinen Stellvertreter an frühere Erfolge: "Wir haben uns nie darum gekümmert, ob wir zahlenmäßig unterlegen waren."

"Ja, Sir, da haben Sie Recht", entgegnete Longstreet, "aber wenn wir jetzt südlich Richtung Washington ziehen, dann müssen sie uns nachsetzen, und wir können uns das Schlachtfeld aussuchen."

Lee riss langsam der Geduldsfaden: "Aber der Kampf ist hier.  Wir wollen den Kampf nicht, aber der Kampf ist hier. Kein einziger Soldat würde begreifen, warum wir uns nach diesem Erfolg zurückziehen."

Longstreet blieb stur: "Nein, das wäre kein Rückzug, sondern eine Gefechtsumstellung."

Aber sein Chef ließ sich nicht beirren: "Nein, ich werde angreifen."

Longstreet setzte noch einmal nach: "General, wenn Meade morgen da oben auf den Hügeln sitzt, dann weil er möchte, dass wir ihn angreifen."

Lee aber ignorierte Longstreets Bedenken und entschied, am 2. Juli beide Flanken der Union auf den Hügeln anzugreifen. Longstreets Vorschlag, an geeigneterer Stelle zu kämpfen, besprach er mit Richard S. Ewell, dem Kommandeur des II. Korps, der Lees Haltung unterstützte. Es sei nicht gut für die Moral der Truppe, dem Feind kampflos das Feld zu überlassen, argumentierte Ewell - also ausgerechnet jener Offizier, der am ersten Tag den Unionstruppen kampflos zwei strategisch entscheidende Hügel überlassen hatte. 

 

Die Verluste an Männern waren für die konföderierte Armee langfristig nicht zu ersetzen

Lee hatte sich festgelegt: Er wollte die Entscheidung erzwingen, er wollte endlich den blutigen Krieg, der Hunderttausende von Opfern forderte, hier und heute beenden. Und fast hätten seine Soldaten es geschafft. Ihre todesmutigen Attacken am 2. Juli scheiterten nur um Haaresbreite, vor allem beim Frontalangriff gegen Sickles' vorgerücktes III. Korps und beim Versuch, den Little Round Top zu erobern, was vom 20. Maine und drei anderen Regimentern in letzter Minute vereitelt wurde (siehe Teil 4). Doch der Blutzoll war auch am zweiten Tag gewaltig. Man schätzt, dass die Nord-Virginia-Armee annähernd 6.000 Mann Verluste hatte, was für die am Angriff beteiligten zwei Divisionen Longstreets Verluste in Höhe von 30 bis 40 Prozent bedeutete. Die Potomac-Armee verlor rund 9.000 Mann bei der Verteidigung der Anhöhen und vor allem im Weizenfeld und auf der Pfirsichplantage, wo Sickles' III. Korps so leichtsinnig die bessere Stellung im Angelhaken aufgegeben hatte.

 

Doch waren die Verluste für Lees Armee viel weniger zu verkraften, da sie die Reihen in Zukunft kaum noch mit frischen Rekruten würde auffüllen können. Vor allem verloren die Konföderierten extrem viele Offiziere der mittleren Ränge. Die Historikerin Dr. Carol Rearden berichtet in der YouTube-Dokumentation "Gettysburg 160" des American Battlefield Trust, dass zum Beispiel das 11. North Carolina-Infanterieregiment in der Schlacht den befehlshabenden Oberst, seinen Adjutanten und 13 Leutnants verlor. Damit war praktisch das komplette Führungsteam dieses Regiments ausgelöscht. Diese mittlere Führungsebene, extrem wichtig für den erfolgreichen Betrieb der Armee, war für Robert E. Lee in Zukunft kaum noch zu ersetzen, wie er selbst später einräumte.

 

Lee folgt den Schlachtstrategien von Napoleon, obwohl diese längst überholt waren

Der zweite Tag der Schlacht, ein verlustreiches Unentschieden, war ernüchternd für Lee nach dem siegreichen Auftakt am 1. Juli. Und er bestätigte Longstreets Einschätzung, dass Gettysburg für die Konförderierten kein geeignetes Gelände für eine siegreiche Schlachtführung war. Und doch klammerte sich Lee stur an seinen Glauben, dass seine Armee unbesiegbar sei und Meades Blauröcke hier bezwingen würde. Und er hielt an noch einer Überzeugung fest: Nämlich die strategischen Manöver von Napoleon Bonaparte als Schnittmuster für seine eigenen Schlachtpläne zu nutzen.  Napoleon hatte die Kriegsführung revolutioniert durch überraschende Truppenbewegungen mit enormem Tempo. Mit ähnlichen Manövern hatte Lee die gegnerischen Befehlshaber ein ums andere Mal besiegt, zuletzt in Chancellorsville. Die konföderierten Soldaten verehrten ihren Befehlshaber, den "Grauen Fuchs". Er war bereits zu einem Übervater der Rebellenarmee geworden, dem sie blind folgten und den sie für unfehlbar hielten. 

 

Doch hatte die Sache mit den napoleonischen Manövern einen Haken: Sie waren zwar zeitlose Klassiker, aber der technische Fortschritt hatte ihre taktische Umsetzung auf dem Schlachtfeld enorm verändert. Wie Tom Wheeler in seiner Analyse "Take Command!" (1999) darlegt, diktierte die napoleonische Doktrin einen Vormarsch einer breiten Linie von Soldaten bis auf 15 bis 30 Meter vor den feindlichen Reihen, um dort frontal die erste Musketensalve abzufeuern. Dieses Gefechtsprinzip wurde von der US-Armee auch im Krieg gegen Mexiko 1846-48 erfolgreich angewendet, in dem Lee, Longstreet und viele andere hohe Offiziere beider Armeen gekämpft hatten.

 

Longstreet hatte sein strategisches Denken an den technischen Fortschritt angepasst - Lee nicht

Nur ein Jahr nach diesem Krieg hatte der französische Offizier Claude Étienne Minié ein Hohlgeschoss entwickelt, dessen Flugbahn deutlich stabiler war. Dadurch erhöhte sich die Treffgenauigkeit der Musketen erheblich. Das Minié-Geschoss änderte die Kriegsführung bereits im Krim-Krieg (1853-56) dramatisch: Plötzlich waren Kampftruppen fast vollständig mit weitreichenden und präzisen Langwaffen ausgestattet. Die effektive Kampfreichweite stieg um den Faktor zwei bis drei. Es war also nicht mehr, wie in den napoleonischen Kriegen, notwendig, die in breiten Reihen formierten Truppen bis auf wenige Meter vor den Feind marschieren zu lassen, um Treffer zu landen. Die Innovation von Minié begünstigte also vor allem gut verschanzte Verteidiger, die Angreifer aus größerer Entfernung genauer treffen und zudem mehrfach nachladen konnten, bevor der Feind ihre Stellung erreichte. 

 

James Longstreet wusste das und hatte sein strategisches Denken daher auf gute Defensivstellungen fokussiert, weshalb er Lee dringend von den Attacken bei Gettysburg abriet. Lee aber tat das, was er aus den Lehrbüchern in West Point vor mehr als 30 Jahren gelernt hatte: Er befahl am 3. Juli den frontalen Angriff auf die Mitte der erhöhten Stellung von Meades Armee. Zuvor hatten 170 konföderierte Geschütze zwei Stunden lang den Cemetery Ridge bombardiert, um die dort verschanzten Einheiten und vor allem die Artillerie der Union zu schwächen - ein Geschützlärm, der noch im 80 Kilometer entfernten Baltimore zu hören war. Zunächst erwiderten 80 Kanonen der Potomac-Armee das Bombardement, doch dann befahl der Artilleriekommandeur, Brigadegeneral Henry J. Hunt, das Feuer einzustellen, um Munition für den erwarteten Infanterieangriff der Rebellen zu sparen. Das plötzliche Ende des Gegenfeuers wurde von den Konföderierten freudig als Ergebnis ihrer Kanonade gedeutet, doch in Wirklichkeit war der Schaden in den Unionsstellungen deutlich geringer, weil die meisten Geschosse über das Ziel hinausgeflogen waren.

 

Picketts Charge - die todgeweihte Attacke der Konfödierten

Jetzt folgte der Angriff, der als "Pickett's Charge" tragischen Ruhm erlangte. Generalmajor George Picketts Division aus dem I. Korps sowie Johnston Pettigrews (vormals Heths) Division und Teile von Isaac Trimbles (vormals Penders) Division aus dem III. Korps von Ambrose P. Hill marschierten aus den Bäumen des Seminare Ridge in einer Breite von mehr als einer Meile aufs Feld. Die Gesamtstärke der eingesetzten Truppen betrug Analysen von Historikern zufolge 13.000 bis 15.000 Mann. Die Brigaden gingen langsam über einen Kilometer offenes Gelände nach Osten auf die Stellungen der Union auf dem Cemetery Ridge vor. Schon eröffneten die intakten Unionsbatterien unbarmherzig das Feuer auf die konföderierten Soldaten. Besonders das flankierende Feuer vom Cemetery Hill und nördlich des Little Round Top riss große Lücken in die angreifenden Linien.

 

Als die Angreifer nur noch 360 Meter entfernt waren, schoss die Artillerie mit Kartätschen, und die Unionsinfanterie beteiligte sich mit Musketenfeuer. Die Konföderierten schwenkten ihre Brigaden weiter ins Zentrum in Richtung einer markanten Baumgruppe, die Lee als Ziel ausgegeben hatte, und verkürzten ihre breite Linie auf eine halbe Meile. Mann um Mann fiel im Bleihagel. Nur gut 200 Rebellen unter Führung von Brigadegeneral Lewis Armistead brach in die Stellungen der Unionsinfanterie ein und erreichte die ersten Kanonen. Doch rasch wurden sie niedergemacht und zurückgedrängt. Armistead war vor dem Krieg der beste Freud von Generalmajor Winfield Scott Hancock, dem Befehlshaber des II. Unionskorps, das den Angreifern gegenüberstand. Armistead wurde wie die meisten seiner Männer tödlich getroffen.

 

Die restlichen Überlebenden wichen langsam zum Seminary Ridge zurück, als sie bemerkten, dass keine Verstärkung kam. Der gesamte Angriff dauert wenig mehr als eine Stunde. Die Verluste der Konföderierten waren enorm: nahezu 5.600 Mann, darunter alle drei Brigade- und alle 13 Regimentskommandeure aus Picketts Division, fielen tot oder verwundet. Als Generalmajor Pickett sich bei Lee zurückmeldete, befahl dieser, sich mit seiner Division auf einen möglichen Gegenangriff der Potomac-Armee vorzubereiten. Pickett antwortete darauf verzweifelt: "General Lee, ich habe keine Division mehr."

 

Die Schlacht war für General Lee vorbei. Er hatte verloren. Doch gerade in der Niederlage zeigte er wahre Größe und nahm sämtliche Schuld auf sich: "Dies war mein Gefecht, und nur ich trage die Verantwortung", räumte er gegenüber Pickett ein. Oberst Freemantle, britischer Militärbeobachter in Longstreets Korps, schrieb in seinem Tagebuch: "Das Verhalten von Lee war vollkommen erhaben. Er war damit beschäftigt, die zerbrochenen Truppen zu sammeln." Zu Freemantle sagte Lee: "Dies war ein trauriger Tag für uns, Oberst, ein trauriger Tag. Aber wir können nicht erwarten, immer nur Siege zu erzielen."

 

Vier Führungsfehler von Robert E. Lee

Doch Lees Verhalten angesichts der verheerenden Niederlage sollte nicht unseren Blick verklären für seine enormen Führungsfehler, die dazu geführt haben. 

 

Strategien von gestern verursachen die Niederlagen von heute: Sein stures Festhalten an der napoleonischen Taktik des Frontalangriffs war wesentlich für Lees Niederlage bei Gettysburg. In den vorherigen Schlachten hatte Lee das Glück gehabt, wirklich Überraschungsangriffe führen zu können (Chancellorsville) oder selbst die gut befestigte, erhöhte Stellung zu haben (Fredericksburg). Gerade letztere Schlacht hätte Lee eine Warnung sein müssen, dass ein Frontalangriff gegen die Unionstruppen auf den Hügeln zum Scheitern verurteilt war. Longstreet hatte seine strategischen Überlegungen an die technischen Innovationen angepasst. Lee jedoch erkannte die Veränderungen nicht oder verweigerte sich ihnen. Dafür zahlte seine Armee einen vernichtenden Preis. Lees Verhalten erinnert hier an die Geschäftsführung des einstigen Branchenriesen Kodak, die die Entwicklung der Digitalfotographie ignorierte und weiter auf das etablierte und lange erfolgreiche Geschäftsmodell des Rollfilms setzte  - bis die Wettbewerber den Markt mit der neuen Technik dominierten und Kodak Insolvenz anmelden musste.

 

Unfähigkeit, den besseren Plan seines Mitarbeiters anzuerkennen: Noch kurz vor dem Angriff der drei Divisionen hatte Longstreet ein letztes Mal versucht, Lee davon abzubringen: "Auch 15.000 Mann werden es nicht schaffen, diesen Hügel zu nehmen, denn es liegt mehr als eine Meile offenes Gelände vor ihnen. Wenn die Männer aus der Deckung der Bäume herauskommen, werden sie von überall unter Yankee-Feuer genommen werden. Sie liegen da oben in der Deckung der Felsen wie wir damals bei Fredericksburg." Lees Antwort: "Wir tun unsere Pflicht, General! Wir tun, was wir tun müssen." Dann gab Longstreet auf und befolgte loyal die Befehle seines Vorgesetzten, deprimiert ahnend, dass er selbst Recht behalten würde: "Ich will diesen Angriff nicht befehlen, ich kann nicht erkennen, wie wir siegen wollen", vertraute er einem Stabsoffizier an. Longstreet hatte versucht, mehrmals sogar, seinem Chef seinen besseren Plan vorzuschlagen. Doch Lee war vielleicht von seiner eigenen Unfehlbarkeit inzwischen so überzeugt, dass er die Alternative seines besten Mitarbeiters immer wieder ablehnte.

 

Mangelhafte Koordination und Kontrolle über sein Personal: Wie schon in Teil 3 der Serie geschildert, versagte Lee in Gettysburg bei der Kommunikation mit seinen Untergebenen. Seine Befehle waren vage, seine Offiziere befolgten sie oft nur mangelhaft. Hinzu kam der taktische Nachteil der Position der Army of Northern Virginia. Während die Union über kurze innere Linien und damit auch Kommunikationswege verfügte, erstreckte sich die gesamte Länge der konföderierten Armee in Gettysburg über gut neun Meilen. Zu viel, um schnelle Befehle zu übermitteln und sauber synchronisierte Manöver durchzuführen. Hinzu kam das bereits mehrmals erwähnte Problem fehlender Aufklärung, weil Stuarts Kavallerie bis zum Abend des 2. Juli nicht vor Ort war und keinen Kontakt mit Lee hielt.  Manche Autoren werfen Lee auch vor, dass er das beinahe renitente Verhalten seines Stellvertreters Longstreet nicht konsequent unterbunden und diesen vor allem am 2. Juli zu mehr Eile und Entschlossenheit bei der Umsetzung seiner Befehle gedrängt hätte.

 

Den Wettbewerber unterschätzt - und sich überschätzt: Nach den Debakeln der Unionsarmee bei Fredericksburg und Chancellorsville und mehrmaligen Kommandowechseln war Lee überzeugt, dem Gegner zwar nicht zahlenmäßig, aber mental und intellektuell überlegen zu sein. Seine Soldaten versprühten einen Siegeseifer, der kaum zu bremsen war. Die Potomac-Armee aber, dessen war es sich sicher, befand sich in einem demoralisierten Zustand und hatte gerade erst einen neuen Befehlshaber bekommen. Lee erinnerte George Gordon Meade als vorsichtigen Offizier, der entschlossenen Angriffen nur wenig entgegensetzen würde. Lee täuschte sich. Meade erwies sich als ungemein fähiger CEO in seinem neuen Kommando, der in nur drei Tagen eine logistische Glanzleistung für seine knapp 100.000 Mann starke Armee orchestrierte und einen erstaunlichen kollegialen Korpsgeist unter seinen leitenden Offizieren erzeugte, weil er ihren Rat anhörte, sie beteiligte und gemeinsame Entscheidungen herbeiführte. Die Veteranen der Unionsarmee hatten aus den Niederlagen und Fehlern der vergangenen zwei Jahre gelernt. Und jetzt, da der Feind den Krieg ein zweites Mal nach Antietam in den Norden trug, waren sie wild entschlossen, ihre Heimat zu verteidigen. Dieses frisch gewonnene Selbstvertrauen und die Kompetenz von Offizieren wie Meade, Buford, Hunt, Warren, Hancock, Reynolds, Vincent und Chamberlain, um nur wenige zu nennen, unterschätzte Lee kolossal. 

 

Fazit: Lee machte die Führungsfehler - und Longstreet wurde zum Sündenbock

Es war am Ende Robert E. Lee, der den Verlauf der Schlacht von Gettysburg hätte anders gestalten können - mit klareren Befehlen und vor allem mehr Veränderungsbereitschaft. Doch seiner Reputation in den Südstaaten schadete diese Niederlage nicht. Die Soldaten der schwer geschlagenen Armee jubelten ihm weiterhin zu, wenn er vorbeiritt. Präsident Jefferson Davis lehnte sein Rücktrittsgesuch am 8. August 1863 ab. Als Hauptschuldigen machten Publizisten und andere Offiziere nach dem Krieg James Longstreet aus. Weil er nach dem Krieg der republikanischen Partei von Abraham Lincoln beitrat und ein enger Freund und Trauzeuge von Ulysses S. Grant war, dem späteren Oberbefehlshaber der US-Armee und Präsidenten, eignete er sich ideal als Sündenbock. Und er hatte es 1872 gewagt, seinem ehemaligen und mittlerweile verstorbenen Chef Robert E. Lee in der Yankee-Zeitung "New York Times" entscheidende Fehler während der Schlacht von Gettysburg vorzuwerfen. Longstreet wurde in den Südstaaten praktisch geächtet. Dabei hat er als untergebene Führungskraft alles versucht, seinen Chef von einer falschen strategischen Entscheidung abzubringen - und erfüllte loyal seine Pflicht.

 

Foto: Generalleutnant James Longstreet, Lees Stellvertreter in Gettysburg, versuchte vergeblich, seinen Chef von dem Angriff gegen die vorteilhaften Defensivstellungen der Union abzubringen. Quelle: Gamaliel Bradford (1863-1932) Confederate Portraits (1914): https://books.google.sm/books?id=KC4EAAAAYAAJ

 

Der verzweifelte letzte Angriff von Lees Armee: Drei Divisionen mit rund 15.000 Mann marschieren unter heftigem Artilleriefeuer gut eine Meile lang über offenes Gelände - und werden vernichtend zurückgeschlagen. Mehr als ein Drittel der Soldaten fallen tot oder verwundet. Nach diesem Fehlschlag ist die Schlacht für die konföderierte Armee verloren. Sie zieht sich nach Virginia zurück.

Das Grauen des Krieges, durch nichts zu beschönigen: Tote Soldaten der Union, fotografiert auf dem Schlachtfeld von Gettysburg. Foto: "The Harvest of Death" von Timothy H. O'Sullivan, United States Library of Congress's Prints and Photographs division, digitale ID ppmsc.00168.