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Custer am Little Bighorn: Das Macht-Paradox in Aktion

Der Boy General, der zum Despoten wurde

Von Mark Hübner-Weinhold

Da sitzt er beim Fototermin anno 1876, der große Held der US-Kavallerie, und hält sich für unbesiegbar. Wenige Wochen später ist tot. Gefallen in der berühmtesten Schlacht zwischen Regierungstruppen und den amerikanischen Ureinwohnern: Little Bighorn. Am 25. Juni vor 147 Jahren wurden fünf Kompanien des 7. US-Kavallerie-Regiments unter dem Kommando von George Armstrong Custer von Stammeskriegern der Sioux, Arapaho und Cheyenne in den Hügeln östlich des Little Bighorn River im heutigen Bundesstaat Montana eingekesselt und vernichtet. Insgesamt 268 Soldaten starben, weil ihr Kommandeur selbstberauscht den Gegner unterschätzte.

 

Die zeitgenössische amerikanische Propaganda, aber auch viele Hollywood-Filme stilisierten Custer und seine Kavalleristen zu glorreichen Märtyrern hoch, die heldenmutig in einem Kampf David gegen Goliath gefallen waren. Ja, wer mit nur 600 Mann ein gewaltiges Indianerlager angreift, in dem nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen bis zu 8.000 Menschen lebten, davon rund 1.500 bis 2.000 Krieger, der darf natürlich behaupten, ein David zu sein. Aber es zeugt eben auch vom Größenwahn der Führungskraft, mit nur fünf Kompanien ein feindliches Lager zu attackieren, in dem Tausende Tipis sich über eine Länge von rund vier Kilometern erstrecken.

 

Das ist George Armstrong Custer, der "Boy General", eine flamboyante, wagemutige und ruhmsüchtige Erscheinung, der als Offizier stets selbst an vorderster Front kämpfte und sich mit Tapferkeit, taktischem Geschick und einer gehörigen Portion Glück seine Meriten während des amerikanischen Bürgerkriegs verdiente. 1863 wurde er mit nur 23 Jahren zum Brigadegeneral befördert. Seine militärischen Leistungen waren im ganzen Land bekannt, er war ein Liebling der Presse und der Öffentlichkeit. Legendär ist seine Rolle bei der Schlacht von Gettysburg, wo er mehrere Angriffe gegen eine zahlenmäßig weit überlegene Südstaaten-Kavallerie von J.E.B. Stuart anführte und so verhinderte, dass die Rebellenreiter in den Rücken der Unionsarmee gelangten. Während des Bürgerkriegs wurde der junge General von seinen Männern verehrt; er sorgte sich um deren Wohlergehen, kümmerte sich um die beste Ausrüstung, gutes Essen und medizinische Versorgung. Und in seinen offiziellen Berichten würdigte Custer oft die Leistungen seiner Untergebenen- und spielte seine eigene Rolle herunter.

 

Doch das sollte sich bald nach dem Krieg ändern, nachdem Custer in den Westen nach Kansas beordert wurde. Er, der selbst in jungen Jahren an der Militärakademie West Point wegen seiner Disziplinlosigkeit berüchtigt war, forderte plötzlich eine brachiale Disziplin von seinen Soldaten. Verstöße wurden drakonisch bestraft, bis hin zu öffentlichen Auspeitschungen und Hinrichtungen. Custer befahl, auf Deserteure zu schießen und versagte den Überlebenden die medizinische Behandlung. Nach einem Militärgerichtsverfahren wurde er für ein Jahr ohne Sold vom Dienst suspendiert. Auf Betreiben seines mächtigen Mentors, Generalmajor Philip Sheridan, wurde er dann wieder in den Dienst zurückgeholt.

 

Custer hatte sich den Ruf als egomanischer Tyrann erworben, und daran sollte auch seine unfreiwillige Auszeit nichts ändern. Im Gegenteil: Er fühlte sich verraten und misstraute fortan auch vielen seiner Vorgesetzten, Kollegen und Untergebenen. Dass er manche seiner Kommandeure für unfähig hielt und deren Befehle einfach ignorierte, rundet das Bild ab. Fakt war: Viele der Offiziere und Soldaten unter seinem Kommando, aber auch aus anderen Einheiten lehnten ihn als selbstsüchtig, arrogant und rücksichtslos ab. 

 

George Armstrong Custer ist ein treffendes Beispiel für das Macht-Paradox. Damit beschreibt der Organisationspsychologe Dacher Keltner von der University of California in Berkeley ein typisches Verhaltensmustern von Menschen: „Das Macht-Paradox besteht in Folgendem: Wenn unsere Macht und unser Einfluss zunehmen, versuchen wir, mit den besten Fähigkeiten, die unsere menschliche Natur zu bieten hat, etwas zu bewirken und etwas in der Welt zu verändern. Die Fähigkeit, etwas zu bewirken, drückt sich darin aus, dass wir das Leben der anderen verändern. Aber wir verlieren die Macht wieder aufgrund unserer schlimmsten Fähigkeit: In einer paradoxen Wende verleitet uns das Bewusstsein, über Macht und Privilegien zu verfügen, zu Machtmissbrauch. In unseren dunkelsten Momenten ähnelt unser Verhalten dann dem triebgesteuerter Soziopathen, die außer Kontrolle geraten sind.“ (Keltner: Das Macht-Paradox, 2016, S. 7f). Viel klarer kann man die Entwicklung von George Armstrong Custer nicht beschreiben - und es gibt unzählige Parallelen in Politik und Wirtschaft, z.B. Napoleon Bonaparte und Wladimir Putin oder Thomas Middelhoff und Martin Winterkorn. 

 

Custer durchlief diese Transformation von einem charismatischen, inspirierenden und fürsorglichen Anführer zu einem narzisstischen und misstrauischen Despoten. Die meisten Männer in der 7. Kavallerie folgten seinen Befehlen, weil es dem Verhaltenskodex der militärischen Hierarchie entsprach und Custer immer noch von seinem betagten Bürgerkriegsruhm zehrte. Aber wichtige Offiziere wie Major Marcus Reno und vor allem Hauptmann Frederick Benteen vertrauten ihm nicht und stellten seine Autorität in Frage. Kurz gesagt: Custers Befehlsgewalt beruhte nur noch auf Statusmacht, nicht aber auf Vertrauen.

 

Das ist eine der vielen Lektionen der Schlacht vom Little Bighorn: Fehlt das Vertrauen entscheidender Teammitglieder in die Führungskraft, so ist ein Projekt oder in diesem Fall die Schlacht von vornherein verloren. Eine Lektionen, die auch Napoleon Bonaparte bei Waterloo erleben musste, als Marschälle wie Grouchy und Ney ihm nicht mehr bedingungslos folgten und damit die Niederlage des Kaisers gegen Wellingtons Koalitionsarmee wesentlich mit verursachten. Aber das ist ein Thema für einen anderen Beitrag an dieser Stelle.

 

Schauen wir abschließend noch kurz auf die taktischen Fehler von Custer. Ohne genaue Kenntnis über den Standort und die Zahlen seiner Gegner teilte er die zwölf Kompanien seines Regiments in drei Bataillone auf. Diese sollten getrennt vorgehen und aus verschiedenen Richtungen das Indianerlager in die Zange nehmen. Seine zahlenmäßig deutlich unterlegene Streitmacht nochmals zu teilen, war ein Schachzug, den General Robert E. Lee im Bürgerkrieg mehrmals erfolgreich angewandt hatte. Doch Lee hatte dann stets einen Plan, genaue Ortskenntnis und loyale Offiziere. Custer jedoch verließ sich einmal mehr auf sein Improvisationstalent und die Kampferfahrung seiner Soldaten. Ein detaillierterer Gefechtsplan wurde nicht ausgearbeitet.

 

Dies war eine durchaus bewährte und schon unzählige Male praktizierte Vorgangsweise in der US-Army, was freilich jedes Bataillon auch dem Risiko aussetzte, plötzlich alleine der geballten Masse des Gegners gegenüberzustehen; wegen der meist im Kampf sehr spontan und chaotisch agierenden Stammeskrieger machte Custer sich darüber wohl keine weiteren Gedanken. Die Warnung des erfahrenen Arikara-Scouts Bloody Knife, wegen der großen Zahl an Kriegern seine Truppen nicht zu teilen, ignorierte Custer, da er dem Kundschafter keine taktische Kompetenz zutraute. Da die Indianer keine Befehlsstruktur kannten, würden sie auch keinen koordinierten Widerstand leisten; sie konnten also nur fliehen oder sich ergeben, glaubte Custer.

 

Als Kadett der Militärakademie West Point war ihm seinerzeit beigebracht worden, dass Indianer der direkten Konfrontation mit größeren Heereseinheiten immer auswichen, da sie in erster Linie darauf bedacht waren, ihre Familien in Sicherheit zu bringen, um damit größere Opferzahlen zu vermeiden. Damit konnte (theoretisch) auch eine kleine Streitmacht eine sehr viel größere schlagen. Custer handelte also keineswegs besonders leichtsinnig, aber auch nicht sehr kreativ oder besonders klug. Im Grunde genommen ging er nach dem Lehrbuch vor, allerdings völlig übereilt (um selbst den Ruhm einzuheimsen) und damit ohne ausreichende Aufklärung. Und er vergaß die einfache Tatsache, dass die (Lehrbuch-)Taktiken von gestern heute oft nicht mehr gelten, weil sich der Wettbewerber angepasst hat und seinerseits mit adaptiver Innovation reagiert. Geschickt nutzten die von Crazy Horse und Two Moons angeführten Krieger der Sioux und Cheyenne ihre Ortskenntnis und Überzahl, um Custers fünf Kompanien Mann für Mann zu töten.

 

Die Ureinwohner feierten ihren Triumph über den verhassten "General Gelbhaar", wie sie Custer nannten, doch Little Bighorn sollte ihr Pyrrhussieg werden, ein letztes verzweifeltes Aufbäumen gegen die weißen Eindringlinge. Custer und seine Mannen wurden zu Märtyrern, eine geschockte Nation forderte harte Vergeltungsmaßnahmen. Innerhalb eines Jahres war die Sioux-Nation geschlagen, „Custer's Last Stand“ war auch ihr letztes Gefecht. 

 

Fotohinweis: This image comes from the Google-hosted LIFE Photo Archive where it is available under the filename bbc2c67502050600